Klartext von Kiesewetter – Ein Brief an die Ampel
Die Verantwortung der Woche
Liebe Ampel-Regierung,
auch wenn die Pandemie Ihr politisches Wirken in Sachen „Fortschritt wagen“ etwas in den Hintergrund rücken lässt, wird das Thema Rente wohl in den nächsten Tagen und Wochen wieder bedeutsamer werden.
Die Freien Demokraten um Christian Lindner haben die Aktienrente ins Spiel gebracht und wollen mit Unternehmergeist und Leistungsorientierung hervorstechen. Beides begrüße ich sehr, krankt unser Land doch ganz gewiss auch daran, dass wir zu passiv und bequem geworden sind. Wir brauchen unbedingt wieder mehr Leistungsliebe! Wir brauchen auch unbedingt mehr Unternehmergeist, wenn wir weiter eine Rolle in der Welt spielen und Wohlstand genießen wollen.
Den Kleinsparer zu Aktienkäufen zu motivieren und damit unseren Unternehmen mehr Kapital zur Verfügung zu stellen, ist sicher kein schlechter Gedanke. Aber das ausgerechnet mit der Rente zu verbinden, ist keine gute Idee.
Denn auch wenn man von mir als Unternehmer, mit Stationen in der damaligen Bundesversicherungsanstalt und privaten Versicherungswirtschaft im Lebenslauf, sicher das Gegenteil erwartet: Das Umlagesystem unserer gesetzlichen Rente darf nicht gefährdet werden, weil es das einzige auf Dauer funktionierende System ist.
Ja, die Rentenversicherung ist überholungsbedürftig. Das darf nach ein paar Jahrzehnten immer wieder mal sein – gibt es das heutige System schließlich schon über 120 Jahre.
Und ja, das Renteneintrittsalter muss erhöht werden. Da sehe ich auch überhaupt kein Problem und Sie werden zu Ihrer Überraschung feststellen, große Teile der Bevölkerung auch nicht.
Denn wir haben uns weit entfernt von körperlicher Schwerstarbeit, die uns mit etwa 60 Jahren beruflich in die Knie zwingt. Wir sind heute viel länger „jung“ und finden Aktivitäten bei 70-jährigen, die noch vor 50 Jahren unvorstellbar schienen. Wir leben auch gar nicht mehr das Modell, in Rente gehen zu wollen und nichts mehr zu tun. Weil wir längst wissen, dass uns das gar nicht gut tut und wir so lange wie möglich eine Aufgabe haben und etwas beitragen wollen. Nicht genauso wie mit 20 oder 30, aber auch gesellschaftlich betrachtet sollten wir nicht auf die Weisheit der Älteren verzichten.
Dass unser heutiges System so nicht weiter funktioniert, ist den meisten von uns klar. Und denjenigen, die es noch nicht verstanden haben, sollten Sie es erklären, anstatt unrealistische Hoffnungen aufrecht zu erhalten, bloß um eine gute Figur beim Regieren zu machen – wie das leider so Usus geworden ist.
Eine Erklärung, die jeder versteht: Wir werden immer älter – seit Einführung der gesetzlichen Rente hat sich die Lebenserwartung verdoppelt! Noch 1950 lag sie im Durchschnitt bei etwa 67 Jahren, so dass die Rente nur für wenige Jahre zu zahlen war. Heute werden wir etwa 81 – Tendenz weiter steigend. Da kann es nicht funktionieren, dass die Renten genauso hoch gezahlt werden.
Statt das einzig funktionierende System zu verbessern, haben Sie es in den letzten Jahrzehnten immer schwächer gemacht. Sie haben den Beitragssatz um Nuancen gesenkt, sobald mal ein bisschen Geld in der Kasse war, statt Vorsorge zu betreiben. Sie haben immer mehr Gutverdiener rausgelassen – Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte konnten ihr eigenes Versorgungswerk gründen – und zeigen nun mit dem Finger auf das gesetzliche System, dass Jedermann und -frau beherbergen muss. Das ist ein bisschen wie damals mit der AOK und den anderen Krankenkassen.
Und statt mehr Geld reinzuholen, wurde das Geld mit Riester und Rürup auch noch in die private Versicherungswirtschaft geleitet. Diese Pläne schienen bereits damals mehr als fraglich, verhindert doch allein das Provisionsaufkommen der Versicherer dem Kunden einen echten Kapitalaufbau in den ersten zehn Jahren. Dass die Versicherungen mit Ihren Standardprodukten ganz miserable Leistungen erbrachten, weil es plötzlich auch keine Zinsen mehr gab, lässt Ihre heutigen Gedanken fast töricht erscheinen.
Denn so wie der Anleihemarkt nicht beständig ist, ist auch der Aktienmarkt keine Einbahnstraße. Vielen Leuten mag das heute nicht mehr geläufig sein, aber wir hatten genug 10 und sogar 20-Jahreszeiträume, in denen ein einmaliges Investment in Aktien sogar Verluste beschert hat. Keine Grundlage also für die gesicherte Altersversorgung der Bevölkerung. Zumal ich mir die Frage stelle, wer einen solchen Fonds managen soll? Und investieren wir dann in internationale Märkte und lassen das Kapital wieder zu Amazon, Google und Apple abfließen, von denen wir ohnehin keine Steuereinnahmen erwarten dürfen?
Wenn Sie wenigstens Immobilienrenten einführen wollen würden, um den Wohnungsbau anzukurbeln, das hätte ich vielleicht noch verstanden, auch wenn das genauso kurzsichtig wäre.
Allzugern wird auch übersehen, dass die gesetzliche Rentenversicherung deutlich mehr als nur ein bisschen Altersversorgung leistet: Im Gegensatz zur kapitalgedeckten Vorsorge, bei der das Vermögen irgendwann aufgebraucht ist, werden die Renten ein Leben lang gezahlt, egal wie alt jemand wird. Darüber hinaus erhalten auch seine Hinterbliebenen noch Leistungen, es werden Rehabilitationsmaßnahmen gezahlt und nicht zuletzt Berufsunfähigkeitsrenten, falls die Gesundheit eine Erwerbstätigkeit bis zum Alter nicht zulässt. Und das alles unter Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung, Arbeitslosigkeit und Schulbildung, für die eine Einzahlung niemals erfolgte.
Die gesetzliche Rente hat sogar die Wiedervereinigung überstanden und Millionen Menschen ermöglicht, Leistungen zu erhalten, ohne jemals einen Cent in die Kasse gezahlt zu haben. Das Verhältnis der Beitragszahler zu Leistungsempfängern wird sich ohnehin verbessern müssen, wenn die Bundesrepublik weiter bestehen will. Das Umlageverfahren hat sich in allen Zeiten bewährt, weil es unabhängig von wirtschaftlichen Zyklen Bestand hat. Es ist das einzige System, was dauerhaft funktioniert.
Als Gesellschaft sollten wir unser Augenmerk also darauf richten, das bestehende System zu stärken und die gesetzliche Rente nicht noch weiter zu schwächen – wie Sie es mit der Aktienrente tun würden. Machen Sie sich Gedanken, wie wir es verbessern können. Aber gehen Sie nicht nur an Beitragssatz, Rentenalter und Rentenhöhe, sondern gestalten Sie neue Möglichkeiten. Wie wäre es mit einer Teilberentung, wenn jemand länger machen will? Holen Sie die gutverdienenden und risikoärmeren Beitragszahler wieder ins System und vergessen Sie vor allem auch die Unternehmer nicht. Nicht jeder wurde ganz freiwillig selbstständig und ist mit großem finanziellen Geschick unterwegs. Die Risiken der Altersarmut betreffen vor allem sie. Aber auch die Zahl der Beitragszahler ist nicht zu verachten, reden wir schließlich von mehr als 4 Millionen Menschen.
Wir leben in einem Sozialstaat. Wir leben das Solidarprinzip. Wir tragen miteinander und füreinander Verantwortung. Sie entscheiden heute, ob es bei einer gesunden Gesellschaft mit einem intelligenten System bei evtl. notwendigen Zuschüssen vom Bund bleibt – oder ob Sie am Ende die Kosten über die sozialen Sicherungen wie Hartz 4 oder ähnlichem komplett übernehmen müssen und die Gemeinschaft weiter verkommt.