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„Wir wollen zu viel nehmen, wo wir erst einmal geben müssen.“
Das Knobeln mit dem Kamin
Die Sache mit dem Kamin ist jedes Jahr das Gleiche.
Wir knobeln. Jedes Jahr. Und in all den Jahren, und ich bin immerhin 53 Jahre alt, habe ich noch nie gewonnen. Noch nie! Immer gewinnt der Kamin.
Es beginnt im Spätsommer, wenn die Tage allmählich kürzer werden und die Abende langsam kühler. In der Nacht fällt es nicht auf, da ist es eher eine Bereicherung. Denn schlafen tun meine Frau und ich gerne kühl. Mit viel frischer Luft, damit wir am nächsten Morgen mit einem klaren Kopf wach werden.
Doch am Abend auf der Terrasse, da dürfte es etwas wärmer sein.
Das wäre schon deshalb schön, weil man endlich mal ohne die ganzen Mücken in Ruhe sitzen könnte. Aber wenn es wärmer wäre, würden sie wahrscheinlich auch länger da sein. Egal. Es geht ja nicht um die Terrasse.
Es geht um den Kamin. Und mich. Und unsere Knobelei.
Im Spätsommer lass ich es mittlerweile sein. Ich weiß ja instinktiv, dass ich nicht gewinne und zögere daher unsere Auseinandersetzung heraus. Die paar Stunden, in denen es zu kalt wird, folgen wir einfach Thilo Sarrazins Anweisungen und ziehen uns wärmere Sachen an. Oder wir nehmen uns eine Decke. Oder wir gehen ins Bett, da ist es immer warm.
Aber im Herbst, da wird es brenzlig. Da sind es nicht nur Abende, da beginnt es schon am Nachmittag. Und bei schlechtem Wetter betrifft es das ganze Wochenende. Da muss ich ran, ob ich will oder nicht.
Dann geht es los: Ich sage zu meinem Kamin, dass es soweit ist. Er weiß es ganz genau und manchmal habe ich das Gefühl, er lacht mich insgeheim schon ein paar Wochen lang aus und hat sich nur zurückgehalten. Er hat es gut versteckt. Er ist mir überlegen. Das wurmt mich. Mal zu verlieren ist kein Problem, aber ich mag nicht immer und dauerhaft unterlegen sein.
In den Jahren habe ich viel gelernt. Heute weiß ich zum Beispiel, dass man nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen sollte, wenn man etwas will. Das gilt offenbar nicht nur für Menschen, sondern auch für meinen Kamin. Deshalb bin ich schon etwas gerissener geworden und pflege eine regelrechte Aufwärmphase in unserer Kommunikation. Ich zeige ihm meine Dankbarkeit und versuche ihn sogar zu loben. Das geht in etwa so:
„Lieber Kamin, ich möchte dir heute einmal danke sagen. Ich habe da so ein Seminar besucht und da wurde mir bewusst gemacht, dass du vielleicht gar nicht weißt, wie ich für dich empfinde. Vielleicht weißt du gar nicht, wie dankbar ich dir bin. All die Jahre hast du mich gewärmt und mich gut durch die härtesten Winter gebracht. Egal wie kalt es war und egal wie unfreundlich ich manchmal zu dir war, immer hast du mir Wärme gegeben.“
So eine perfekte Einleitung hatte ich wirklich noch nie. Damit werde ich es in diesem Jahr probieren. Vielleicht klappt es ja diesmal.
„Lieber Kamin, in diesem Jahr will ich dir besonders wohlgesonnen sein. Ich will dir nicht nur meinen Dank erweisen, ich würde dir auch ein Liedchen singen. Oder für dich beten. Oder anderen von deiner fantastischen Arbeit und deinem Talent berichten. Ich könnte dich sogar in die Zeitung bringen. Wenn du magst?!“
Jetzt kommt die entscheidende Phase:
„Lieber Kamin, ich würde es gerne in diesem Jahr andersherum machen als sonst. Ich würde vorschlagen, diesmal machst du mich erst warm und dann gebe ich dir Holz. Es wäre auch viel sinnvoller, denn dann habe ich warme Finger und kann viel besser das Holz hacken.“
Ich bin gespannt, ob es damit diesmal klappen wird. Ansonsten denke ich mir im nächsten Jahr irgendetwas aus, womit ich ihn überlisten kann. Denn ich habe wirklich die Schnauze voll, immer zuerst etwas machen zu müssen. Es kann nicht sein, dass ich immer erst Holz geben muss und er mich erst dann warm macht.
Es kann nicht sein, dass wir immer erst geben müssen, bevor wir nehmen können.
Oder wie sehen Sie das?